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WIR – Werkstatt für Integration und Rehabilitation gGmbH
Wenn der Alltag wegbricht (KStA vom 29.4.)

Wenn der Alltag wegbricht (KStA vom 29.4.)

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Um die Salatpflanzen kümmern sich zurzeit die Betreuerinnen und Betreuer. Fotos: Petrasch-Brucher

Wenn der Alltag wegbricht

Schließung der Werkstätten für Integration und Rehabilitation macht den Kranken zu schaffen

VON ELKE PETRASCH-BRUCHER

Hürth. Die Zeit „vor Corona“? Wenige Wochen her und doch unendlich weit weg. Einander umarmen, auf Konzerte gehen oder einfach nur zur Arbeit, für viele derzeit undenkbar. Eine schmerzhafte Erfahrung. „Unsere Mitarbeiter mit psychischen Behinderungen hat es besonders hart getroffen“, sagt Geschäftsführerin und Werkstattleiterin Birgit Hummel besorgt. „Von heute auf morgen brach ihr Alltag komplett weg. Ich musste ihnen erklären, dass sie ab sofort nicht mehr zur Arbeit kommen dürfen.

Viele der 290 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der drei Werkstätten für Integration und Rehabilitation (WIR) in Hürth und Bergheim konnten es nicht fassen. Ein sofortiges Betretungsverbot ab 18. März nahm ihnen laut Erlass der NRW-Landesregierungwegen der Corona-Pandemie plötzlich die Tagesstruktur, den Alltag und die vertrauten Menschen. Einige kamen trotzdem am nächsten Tag wieder, standen vor verschlossenen Türen, klingelten. Birgit Hummel musste es noch einmal erklären.

Aus dem anfänglichen Unverständnis entwickelte sich bei vielen Angst vor der Einsamkeit. Denn die Werkstätten sind für sie nicht nur Arbeitsplatz in der Näherei, Schreinerei, Hauswirtschaft, im Gartenbau oder in der Fertigung, sondern auch ihr Halt, ihr zweites Zuhause.

"Eine Mitarbeiterin hat gerade ihren Sohn verloren.
Da müssen wir abwägen: Was ist gefährlicher,
die Verzweiflung der Menschen oder die akute Lage?"

Birgit Hummel, Werkstattleiterin

Die Verbindung zu den 45 Betreuerinnen und Betreuern ist eng und vertrauensvoll, es gibt Yoga- und Kochkurse, Sportveranstaltungen und jeden Tag ein gemeinsames Mittagessen. Das alles fiel von einem Tag auf den anderen weg. „Wir machen uns Sorgen, wie es unseren Mitarbeitern zu Hause geht“, sagt Birgit Hummel. „Einige leiden an Wahnvorstellungen, haben Depressionen oder Suchterkrankungen. Da kann es schon sein, dass der eine oder andere jetzt in dieser Situation wieder dem Alkohol verfällt oder in Psychosen abrutscht“, befürchtet sie. Daher rufen die Betreuer, alle geschulte Sozialpädagogen, regelmäßig an, fragen nach und trösten.

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Die psychisch kranken Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dürfen die Werkstätten nicht betreten.

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Werkstattleiterin Birgit Hummel zeigt eine der Behelfsmasken, die Grit Landsberg näht.

Auch Mitarbeiter des Sozialen Dienstes sind regelmäßig telefonisch für Notfälle erreichbar. „Rund 20 Prozent der Mitarbeiter mit psychischen Behinderungen wohnen in Wohngruppen“, berichtet Birgit Hummel. „Dorthin gehen unsere Betreuer regelmäßig und helfen aus.“ Aber auch das reiche nicht immer. Für besonders schwere Fälle wurde nun eine Notgruppe gegründet, die trotz des Betretungsverbots in den riesigen Werkhallen unter Einhaltung aller Schutzmaßnahmen arbeiten darf. „Ein Mitarbeiter ist selbstmordgefährdet, den können wir nicht allein lassen“, betont Hummel. „Eine andere Mitarbeiterin hat gerade ihren Sohn verloren. Das sind Ausnahmen, da müssen wir abwägen: Was ist gefährlicher, die Verzweiflung der Menschen oder die akute Lage?“

"In dieser besonderen Notsituation
halten wir alle zusammen und helfen da,
wo gerade am meisten Hilfe gebraucht wird."

Birgit Hummel

Für alle anderen gibt es E-Learning-Angebote und tägliche Arbeitsblätter. „Manchmal sind es Koch- oder Backrezepte“, sagt Birgit Hummel. „Heute hieß die Aufgabe: Gehen Sie nach draußen und finden Sie fünf Naturmaterialien.“

Den aktuellen Betrieb in den Werkstätten halten die Betreuerinnen und Betreuer selbst am Laufen. Sie fertigen in der Schreinerei Insektenhotels für die Kunden, züchten Salatpflänzchen oder nähen wie Grit Landsberg Mund- und Nasenschutze, auch für die Mitarbeiter, wenn sie ihre Tätigkeit in den Werkstätten wieder aufnehmen können.

„Wir haben die Hoffnung, dass sie ab Montag, 4. Mai, nach und nach wieder kommen können“, sagt Birgit Hummel. „Bis dahin planen wir die Schutzmaßnahmen für die Belegschaft. Können wir den Mindestabstand einhalten? Reichen die Behelfsmasken? Brauchen wir noch zusätzliche Toiletten?“

Solidarität sei jetzt in dieser unsicheren Zeit besonders wichtig. Birgit Hummel: „In dieser besonderen Notsituation halten wir alle zusammen und helfen da, wo gerade am meisten Hilfe gebraucht wird.“

 

Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger, Ausgabe: Mi, 29. April 2020

 

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